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Bilderspaziergang
„Scheane wors“ – Gipfelbücher

Wer wandert und klettert auf die Berge im Ötztal und warum? Welche Beziehungen haben die Menschen zur Natur- und Kulturlandschaft des Ötztals und welche Gedanken gehen ihnen durch den Kopf, wenn sie sich auf einem Berggipfel befinden? Die Einträge in den Gipfel- und Steigbüchern im Ötztaler Gedächtnisspeicher geben Auskunft darüber.

Sie fanden ihren Weg vom Hahlkogl, vom Köpfle, von der Wöckelwarte, vom Obergurgler Zirbenwald, vom „Daumen“ und von den Klettersteigen Reinhard Schiestl (Burgsteiner Wand) und Lehn wieder zurück ins Tal. Durch eine Schenkung des Ötztaler Tourismusverbandes erreichten uns die zwischen 2001 und 2019 gebrauchten Gipfelbücher im Gedächtnisspeicher in Lehn.

Die Praxis des Verfassens der Gipfelbucheinträge hängt wohl eng mit dem Aufkommen des Alpinismus zusammen. Menschen betrachteten die Berge nicht mehr nur vom Tal aus, sondern entdeckten sie als Orte der Freizeit- und Sporterlebnisse, so der Kulturwissenschaftler Wolfgang Kunz. Die Menschen beginnen ihre Bergbesteigungen zu dokumentieren. Kunz identifiziert Gipfelbucheinträge als „Selbstzeugnisse am besonderen Ort.“

Heute hat der Alpinismus neue und größere Formen angenommen. Das Ötztal ist mit seinen zahlreichen Klettersteigen und Wanderrouten das Ziel vieler Berggeher:innen. So gibt es unzählige Einträge und Spuren, die in den Gipfelbüchern hinterlassen werden und uns etwas über die Praxis des Berggehens und Gipfelbucheintragens im Ötztal erzählen.

Wer selbst bergaffin ist, sich gerne in Gipfelbücher einträgt, oder diese aus Interesse durchblättert, weiß vielleicht, dass es Gipfelbucheinträge in allen Formen und Farben gibt. Auch in den Gipfelbüchern im Ötztal finden wir nicht nur die typischen Namens-, Alters- und Datumseinträge, Informationen zum Aufstieg oder Beschreibungen von Wander- und Klettersteigerfahrungen, sondern auch Gründe für das Wandern und Klettern, Gedichte, Sprüche, Witze, Wünsche, Lebensweisheiten, Kurzgeschichten, Zeichnungen, sportliche Rekorde, Kritzeleien, Kommentare, Grüße an Freund:innen und Familie, Stempel, Sticker, sowie Kaffee- oder Teekleckse. Dabei gibt es freundliche, ernste, diskriminierende und lustige Beiträge. Die Menschen schreiben über ihr Leben oder ihren Urlaub im Ötztal. So sind beispielsweise sonntägliche Familienausflüge, Hochzeitsjubiläen, (erste) Dates, Mutter- und Vatertage, Sommeralpinausbildungen des Bundesheers, Ausflüge jugendlicher Freund:innengruppen oder auch Verlusterfahrungen Gründe für das Wandern und Klettern im Ötztal.

Gleichzeitig sind die Berge im Ötztal Ziel österreichischer und deutscher Alpenvereine, um Kletterrouten zu testen. Mit ihrem technischen Wissen und Know-How weisen sie in ihren Einträgen auch auf Zustand, Sicherheit und Qualität der Wanderrouten hin. Dazu reihen sich Sportler:innen aus der ganzen Welt, die in den Gipfelbüchern ihre Rekorde festhalten. Wir erfahren über junge Menschen aus ganz Europa, die im Ötztal ihre Jungessell:innenabschiede feiern und Partys in Sölden mit Klettererlebnissen in Längenfeld verbinden. Familien aus dem Ötztal halten stolz erste Wanderungen ihrer Kinder auf ihrem Hausberg fest. Wir lesen von Warnungen an Tourist:innen, die die „heimische“ Natur zerstören aber wir lesen auch über Beziehungen, die zwischen Ötztaler Bergführer:innen und ihren Gäst:innen entstanden sind. Für viele ist das Ötztal auch mehrmals schon Reiseziel in ihrem Leben gewesen. Auffallend ist auch, dass viele der Berggeher:innen mehrmals dieselben Klettersteige gehen und verschiedene Steige und Wanderungen im Ötztal ausprobiert haben und diese miteinander vergleichen. Es finden sich Hinweise zur Anreise der Menschen und die auf diesem Weg genutzten Verkehrsmittel und durchquerten Orte. Durch das römisch-katholisch geprägte Ötztal sind auch viele religiöse Einträge zu lesen.

Kunz beschreibt, dass die Berge von vielen Menschen mit religiösen Bedeutungen aufgeladen werden und der Weg zum Gipfel bzw. das Erreichen des Gipfelkreuzes auch Teil religiöser Praxen sein kann. Die Gipfelbucheinträge werden nicht nur von anderen Berggeher:innen gelesen, sondern können auch eine wichtige Informationsquelle für die Bergrettung sein, wenn sie etwas über die Wege verraten, die die Menschen auf ihrer Wanderung gegangen sind. Die verschiedensprachigen Einträge lassen auch erkennen, woher die Berggeher:innen anreisen. So sind es Menschen aus dem Ötztal, aus Tirol, aus den Niederlanden, Tschechien, Polen, Italien, Kurdistan, den USA oder Kanada, um nur ein paar genannt zu haben. Durch das Lesen der Einträge wird deutlich, dass Berggeher:innen mit den unterschiedlichsten Zielen und Erwartungen auf die Berge im Ötztal klettern, welches sich in verschiedenen Konflikten und Diskursen, wie beispielsweise um Naturbelassenheit und Verbauung, ausdrückt. Die Gipfelbücher stellen sich daher als informative Quelle über das Ötztal, dessen Berggeher:innen, deren sportliche Praktiken, sowie Lebensweisen und Einstellungen heraus. So erfahren wir über die Bedeutung, die das Tal für die Menschen hat (Ötztal als Heimats- und Urlaubsort), über den Tourismus und die Beziehungen und Konflikte zwischen Gäst:innen und im Ötztal lebenden Menschen, sowie über die Beziehung der Menschen zu ihrer Umwelt. Wir erfahren über die Wünsche, Sehnsüchte, Ängste, Ausdrucksformen, Sprache, Zeitgeist, Vorstellungen und Herkünfte der verschiedenen Generationen von Berggeher:innen. Auch Geschlechterbeziehungen, sowie politische, kulturelle und gesellschaftliche Stimmungen der Berggeher:innen im Ötztal lassen sich herauslesen.

Der Bilderspaziergang stellt eine Auswahl von Gipfelbucheinträgen im Ötztal vor. Es lohnt sich einen Blick darauf zu werfen und sich die an Inhalt und Form verschiedensten Erzeugnisse der Menschen anzusehen und so etwas über die Praxis des Gipfelbucheintragens, die Berg- und Klettersteiggeher:innen im Ötztal und über ihre Motive, Vorstellungen, sowie Beziehungen zum Berggehen und anderen Menschen zu erfahren. Vielleicht entdeckt der ein oder die andere auch die eigenen Einträge.

(Von Marie Schuchter, mit Dank an Nikodemus Brugger für die Idee)