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“Ad sanctam gondolam”
Piccards Landung 1931

Es war ein Zufall, der Obergurgl vor exakt 90 Jahren auf Jahrzehnte mit dem Einstein-Schüler, Experimentalphysiker und Stratosphärenforscher Auguste Piccard verband. Gemeinsam mit seinem Assistenten Paul Kipfer war er im Mai 1931 in einem Gasballon in die Stratosphäre bis auf 15.781 m Höhe aufgestiegen.

Prof. Auguste Piccard und Dr. Paul Kipfer nach der Landung der Stratosphären-Kugel auf dem Gurgler Ferner [Sammlung Peter Scheiber, Ötztaler Museen]

Hier erblickten die beiden als erste Menschen die Erdkrümmung mit eigenen Augen. Gestartet in Augsburg, landete das Luftfahrzeug 17 Std. später auf dem Gurgler Ferner.

Die Nachricht von der erfolgreichen Bergung der beiden Wissenschaftler samt ihrer Kugelgondel machte das Ötztaler Bergdorf weltbekannt – die Presse strömte nach Obergurgl, zahlreiche internationale Zeitungsberichte erschienen und das Ereignis wurde wieder und wieder erzählt. Bemerkenswert ist vor diesem Hintergrund der Eintrag des Gurgler Pfarrer Danlers, den er kurz darauf in der Pfarrchronik von Gurgl festhielt. Er soll zum 90-jährigen Gedenken an das Ereignis hier ungekürzt wiedergegeben werden. Einen Bilderspaziergang zur Bergung stellen wir hier für Sie bereit.

Mai 1931, ca. 9 Uhr abends: Als die Leute von der Maiandacht, welche um ½ 8 h begonnen hatte, nach Pirchitt heimhingen, sah Johann Grüner („Jakoben-Hansl“) einen Ballon in großer Höhe durchs Tal hineinziehen, beobachtete ihn noch einige Zeit mit einem Fernrohr, glaubte schließlich daß er niederginge, konnte aber wegen der Dunkelheit nicht erkennen, ob vor oder hinter dem Schalf. Von Piccards Forschungsflug wußte er nichts. Am nächsten morgen ging sein Bruder, der Bauer Martin Grüner, auf den Hügel hinter Pirchitt, den sogenannten Ochsenkopf, um zu düngen. Da erblickte er auf dem Gurgler Ferner einen großen gelben Fleck – die ausgebreitete Ballonhülle. Er begab sich nach hause und wollte mit den Nachbarburschen zum Ferner hineingehen. Zuerst wollte Martin Grüner mit Plörer Alois nachschauen gehen, aber der Vater Plörer ließ seine Buben nicht gehen und meinte, daß sicher die Obergurgler suchen gehen. Die Plörer Buben Lois und Sepp erzählten nach dem Gottesdienst in Obergurgl, daß man abends einen Ballon vom Nöderkogel hineintreiben und beim Schalf habe niedergehen sehen. Während des Gottesdienstes sah Martin vom Hügel aus die Ballonhülle. Da diese nicht mitgehen konnten, eilte er nach Obergurgl und meldete seine Beobachtung im Gasthof Edelweiß. Da wurde ihm gesagt, daß es der Ballon wohl nicht sein könne, was er am Ferner gesehen hätte, denn es sei eben erst die Telephon-Meldung gekommen, daß der Ballon über Verona (!) gesichtet worden wäre.

Von Piccard und Kipfer unterzeichnete Postkarte, im Vordergrund Obergurgl mit dem Gasthof Edelweiß [Sammlung Peter Scheiber, Ötztaler Museen]

Martin Grüner ließ sich aber nicht abbringen und suchte den Hugo Gstrein, Hausdiener im „Edelweiß“, zum Mitgehen zu bewegen, beide gingen zuerst noch zum Lehrer Hans Falkner, der eben im Widum Schule hielt. Falkner wußte aus der Zeitung, daß Prof. Piccard mit einem Ballon aufgestiegen war, hatte aber am Vortag den Ballon nicht beobachtet. Auch am Ferner hatte er noch nichts liegen gesehen (weil von Obergurgl aus die Landungsstelle des Ballons überhaupt nicht gesehen werden kann). Er vermutete jedoch sofort, als Grüner ihm seine Wahrnehmung mitteilte, daß es sich um Piccards Ballon handeln könnte. Er schloß sich daher den zweien an. Alle drei machten sich also auf den Weg gegen den Großen Gurgler Ferner. Auf dem Beilstein sagte Hugo, als der mit Lehrers Glas den gelben Fleck am Ferner betrachtet hatte: „Da können wir ruhig umkehren, das ist nur Schmutz aus einer Gletscherspalte.“ Martin Grüner und der Lehrer jedoch bestanden auf der Weitersuche. Später schaute wieder Martin mit dem Glase und erkannte deutlich, daß es eine Ballonhülle sei. Ungefähr um 11 h kamen alle 3 bei der Landungsstelle an. Dr. Kipfer, der Begleiter Prof. Piccards kam entgegen und wurde zuerst von Martin Grüner begrüßt Piccard und Dr. Kipfer hatten die Nacht in der Gondel verbracht und befanden sich, als die Retter kamen, bereits außer dem Ferner, in den Felsen des Ramolhanges. Der Lehrer eilte dem Prof. Piccard entgegen und begrüßte ihn. Piccard wußte nicht, wo er sich befand und fragte: „Wo sind wir? In der Schweiz, in Italien, oder in Österreich?“ Beide Männer waren ziemlich erschöpft und hätten allein unmöglich nach Obergurgl gehen können, zumal sie auch keinen Weg kannten. Sie nahmen etwas Brot und Speck; Schnaps und Tee aber lehnte Piccard ab.

Der Lehrer Falkner ging dann allein voraus nach Obergurgl und erstatte die Meldung von Piccards Landung und Rettung an die Behörden und Redaktionen (per Telephon) und gab Piccards Telegramme auf. Martin Grüner und Hugo Gstrein führten unterdessen die beiden Forscher mit vieler Mühe am schneebedeckten, felsigen und steilen Hang heraus. Bis Beilstein war noch geschlossen Schnee und kein Weg zu sehen; von dort aber war der Weg halb aper, halb verschneit. Es ging recht langsam vorwärts, denn die beiden Männer waren am Ende ihrer Kräfte. Sie mußten sich immer wieder setzen, wollten Wasser trinken und Kipfer wurde überdies gleich vom Schlaf übermannt, sobald er saß. 

Zu einer Strecke, die normal in 2 ½ Stunden leicht zurückgelegt werden kann, brauchten sie 5 Stunden. Um ½ 6 h kamen sie endlich in Obergurgl an. Inzwischen war die Welt vom großen Ereignis in Gurgl bereits verständigt, von allen Seiten kamen telephonische Anfragen und telegraphische Glückwünsche, mit Motorrädern und mit Autos (ein Auto kam sogar von Rom!) jagten die Zeitungs- und Sensationsmänner nach Zwieselstein und stürmten dann zu Fuß, einander überholend, nach Obergurgl. Der Gasthof Edelweiß füllte sich mit Gästen, das Postamt hatte angestrengten Tag und Nachtdienst. Sogar eine Radiosendung wurde im Edelweiß eingerichtet, damit Prof. Piccard, Dr. Kipfer und Lehrer Falkner sich derselben bedienen konnten. Augen und Ohren der weiten, großen Welt waren nach Gurgl gerichtet! Wie viel Menschen werden nach ein paar Jahrzehnten noch wissen, daß am 27. Mai 1931 Prof. Piccard in Gurgl niedergegangen und gerettet worden ist?! Närrische Welt!

Prof. Piccard blieb zwei Tage in Obergurgl, dann reiste er mit Kutsche ab und in Gurgl wurde es wieder still. Die Zeitungen brachten spalten- und seitenlange Berichte über die Rettung Piccards, seinen Empfang und Aufenthalt in Obergurgl – aber wieviel da zusammengelogen wurde, das ist einfach unglaublich!

Bei der Bergung des Ballons an Gurgler Ferner [Sammlung Peter Scheiber, Ötztaler Museen]

Lehrer Falkner erhielt als „Retter Piccards“ verschiedene Belobungen und wurde mit einem belgischen Ritterorden ausgezeichnet. Ich war damals, als Piccards hier landete, im Achental bei meiner Mutter, auch Herr Scheiber vom Edelweiß hielt sich gerade in Innsbruck auf.

Nach meiner Rückkehr traf ich etliche Male mit den Forschern zusammen. Prof. Piccard sprach einmal zu mir von der Gefahr der Landung im Hochgebirge. Dann zeigte er in der Richtung gegen die Kirche zum Himmel und sagte: „Daß es mir so gut gegangen ist, das verdanke ich dem da droben“ Auch eine recht spitzbübische Bemerkung machte er mir gegenüber. „Herr Pfarrer“, sagte er, „Ich habe da drinnen am Ferner mit meiner Gondel beim landen ein paar ordentliche Löcher geschlagen. Wenn die Gemeinde Schadenersatz verlangen sollte, wollen Sie mich, bitte, verständigen.“

Touristin in der Piccard Gondel im Sommer 1931 – die Kugel ist bereits übersät mit Sgraffiti von TouristInnen [Sammlung Andreas Rauch, Ötztaler Museen]

Über den Sommer ließ man die Gondel auf der Moräne am Fuß des Langtaleckfelsens liegen. Wie da die Fremden von Gurgl und vom ganzen Tal Tag für Tag hineinpilgerten – ad sanctam Gondolam – um im hl. Erschauern vor dieser Kugel zu stehen, sich mit ihr photographieren zu lassen, selbst hineinzukriechen, um bei einem Loch herauszuschauen, den Namen einzuritzen und sich ein Andenken – ein Stück Glas von den zerschlagenen Guckfenstern, eine Faser von den Ballontauen und dgl. mehr – mitzunehmen! Das muß man gesehen haben! Die Gurgler hofften, die Gondel zur ewigen Erinnerung behalten zu können. Sie sollte bei der Langtaleckhütte, von wo die Landungsstelle so schön zu sehen ist, auf einem Betonsockel aufgestellt werden. Aber alles Bemühen nützte nichts. Im nächsten Winter wurde sie vom Baumeister Senn von Innsbruck – mit Hindernissen (!) abtransportiert und soll nun in Brüssel irgendwo aufgestellt sein.